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UNTERSTÜTZTE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG: PROF. DR. TOLLE UND DR. STOY IM GESPRÄCH

Bedürfnisse ergründen und Räume erweitern

Die Unterstützte Entscheidungsfindung ist seit vielen Jahren im Gespräch. Vor allem im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention hat das Thema an Fahrt aufgenommen. Wir haben die Wissenschaftler*innen Prof. Dr. Patrizia Tolle und Dr. Thorsten Stoy (Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit) dazu befragt, was Unterstützte Entscheidungsfindung ist, wie sich der aktuelle Stand der Forschung beschreiben lässt und was das für die Praxis heißt.

Frau Prof. Tolle, Herr Dr. Stoy, was ist Unterstützte Entscheidungsfindung (UEF) - in einem Satz?
Tolle: Unser aktueller Satz lautet: Den Möglichkeitsraum erweitern und isolierende Bedingungen abbauen.
Stoy: UEF ist der ergebnisoffene Prozess vom Bedürfnis eines Menschen zu seiner Entscheidung.
Tolle: Ja, wir können auch ganz plakativ sagen: UEF ist der Weg vom Bedürfnis zum Ziel.
Ist UEF eine Technik? Eine Methode? Eine Haltung?
Tolle: Es ist sicher keine Technik. Es ist kein Verfahrensablauf, der bei Punkt 1 startet und bei Punkt 5 endet und bei jedem gleich anzuwenden wäre.
Stoy: Es ist auch keine Methode, die die Frage beantwortet: Wie ist ein Gespräch zu führen, sodass ein Mensch eine Entscheidung für sich treffen kann? UEF ist ein Konzept.
Tolle: UEF beschreibt eher eine Haltung, ist so etwas wie ein Denkwerkzeug. Immer vor dem Hintergrund: Wie kann ich Teilhabe ermöglichen und Ausgrenzung vermeiden? Das sind meine Leitlinien. Auf dieser Basis gehe ich in Situationen, in denen etwas entschieden werden soll. Jeder Prozess gestaltet sich in seiner eigenen Art und Weise.
Stoy: Der Schlüssel zur UEF ist der Dialog. Es geht darum, die Bedürfnisse eines Menschen gemeinsam mit ihm zu erarbeiten, sodass die Person erkennen kann: Welches Bedürfnis habe ich eigentlich? Um dann für sich abwägen zu können: Was will ich konkret, um dieses Bedürfnis zu befriedigen? Oft sind die Bedürfnisse nicht auf den ersten Blick sichtbar, da sie hinter den Entscheidungsfragen liegen. Ein Beispiel einer Klientin, die sexuelle Gewalt erleben musste. Ihre Frage: Soll ich den Täter anzeigen? Jetzt gilt es sich vorzustellen: Steht hinter dieser Entscheidungsfrage ein bestimmtes Bedürfnis? Zum Beispiel: Die Klientin möchte, dass ihr Recht umgesetzt wird. Oder: Sie wünscht sich, dass der andere bestraft wird. Oder: Sie möchte erst einmal mit jemanden über dieses schambesetzte Thema sprechen. Hinter jeder Entscheidungsfrage liegen Bedürfnisse. Diese können sich in dem gesetzten Thema abbilden, müssen es aber nicht. Die Aufgabe von Betreuer*innen ist, den Klient*innen Möglichkeiten des Denkens und des Handels zu eröffnen, ihre Bedürfnisse zu erkennen und Wege der Bedürfnisbefriedigung zu entwickeln.
Tolle: Das Bedürfnis ist dabei nicht als Mangel zu verstehen, sondern als eine Sehnsucht, als eine Erwartung an die Zukunft. Um bei dem Beispiel der Frau zu bleiben: Vielleicht geht es erstmal darum, dass sie Anerkennung ihrer Gewalterfahrung sucht, dass jemand zuhört.

Wenn ich mich in dem Rahmen der von Ihnen beschriebenen Grundhaltung und den Leitlinien bewege: Gibt es einen Methodenkoffer, den ich einsetzen kann, um die Bedürfnisse gemeinsam mit den Klient*innen zu erarbeiten?
Tolle: Ganz wichtig ist, dass ich als Betreuer*in meine eigenen Bedürfnisse und meine Erwartungen an die Zukunft kenne. Nur so kann ich sie abtrennen von denen der Klient*innen. Oft drängen wir den anderen unsere eigenen Interessen auf. Das Wissen um die eigenen Belange ist eine wichtige Grundlage, um von der Haltung in die Umsetzung zu kommen. Es bedarf einer stetigen Selbstreflexion.
Stoy: Und die Hinterfragung meines Menschenbildes ist wichtig, die Reflexion meines eventuell defizitären Menschenbildes. Denke ich z.B., dass Menschen mit Behinderungen oder psychischen Diagnosen vieles nicht können? Dessen muss ich mir bewusst sein, weil der defizitäre Blick uns dazu verleitet anzunehmen, dass der Mensch eingeschränkte Fähigkeiten hat. Die Haltung „der*die kann das nicht" wird sich auch auf den Dialog auswirken und eher verhindern, dass die Bedürfnisse zum Vorschein kommen. Diese Muster müssen wir also abbauen.
Sie betonen noch einmal sehr grundsätzliche Aspekte, zurück zu meiner Frage nach den Methoden .. .
Stoy: Da muss ich ein bisschen ausholen. Wir haben aktuell den Artikel 12 Absatz 4 UN-BRK, den Schutz vor missbräuchlicher Einflussnahme, mehr in den Blick genommen. Das Problem ist: Wenn ich der UEF bestimmte Methoden zugrunde lege, ist die Gefahr groß, dass die Person, die diese Methoden bestens beherrscht, andere unbemerkt zu Entscheidungen führt, die vielleicht nicht deren eigene sind. Oder anders gesagt: Ich müsste bei jeder unterstützenden Person voraussetzen, dass sie stets die Situation reflektiert und immer im Blick hat, wann und wo Manipulation beginnt. Da läge die Verantwortung also bei der einzelnen Person, das Individuum wäre sehr gefordert. Die UN-BRK fordert aber einen strukturellen Schutz vor Manipulation Deswegen setzen wir weniger auf Methoden, sondern vielmehr auf ein generelles Konzept: Woran haben Betreuer*innen grundsätzlich zu denken? Mit welcher Haltung ist die Gefahr von missbräuchlicher Einflussnahme grundsätzlich einzudämmen? Da sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs .. .
Tolle: Wir selbst haben auch einen Entwicklungsprozess durchlaufen und sind anfangs von einem Methodenkoffer ausgegangen, um das jetzt zu verwerfen. Das war eine wichtige Stufe, um die nächste, jetzige Stufe zu denken. Unser Konzept basiert auf den Aspekten „echter Dialog und Bedürfnisergründung" - das ist das Wesentliche .
Kann ich diese Grundlagen von Dialog und Bedürfnisergründung lernen?
Tolle: Ja, wir haben es ja auch gelernt, wenn ich mir unseren Weg anschaue von unserem ersten Artikel bis heute (lacht) .

Stoy: Fortbildungsinstitute wie das ipb bieten im Zuge des neuen Betreuungsrechts natürlich solche Inhalte. Aber mal weg von den Einrichtungen: Gut zu lernen ist es in einem reflektierten Anleitungsprozess - Supervision, Intervision oder Kollegiale Beratung. Und bei den ehrenamtlichen Betreuer*innen erfolgt das im Rahmen der Schulungen durch die Vereine. Speziell hier in Hessen hat das Ministerium für Gesundheit und Soziales jetzt das erste Curriculum für diese Schulungen herausgegeben, an dem Kapitel zur Unterstützen Entscheidungsfindung haben wir mitgearbeitet .
Tolle: Und natürlich ist es Gegenstand in unseren Lehrveranstaltungen an der Frankfurt University of Applied Sciences .
Werfen wir einen Blick in die Praxis: Welche Rolle spielt die UEF aktuell?
Stoy: Da beobachten wir zwei Seiten. Zum einen haben wir Interviews mit Betreuer*innen zur Umsetzung der UEF und zur Umsetzung der Selbstbestimmung geführt. Hier ergibt sich ein sehr heterogenes theoretisches Verständnis davon, was UEF ist. Beschrieben wird es als Technik, als Methode, weniger als Konzept. Ebenso heterogen zeigt sich die Umsetzungspraxis. Auf der anderen Seite erleben wir auf Vorträgen, die wir zu dem Thema halten, häufig die gleiche Reaktion: ,,Das machen wir doch schon alles!" Widerspricht sich das nicht?
Stoy: Nicht unbedingt, es ergänzt sich eher. Ich glaube, das heterogene Verständnis resultiert daraus, dass es ein Stück weit ohne theoretischen Rahmen ist. Ohne diesen Rahmen wird die Praxis eben sehr unterschiedlich beschrieben und un!erliegt einer gewissen Beliebigkeit. Wir hoffen, mit unseren Erkenntnissen, mit unserem Postulat, eine theoretische Fundierung zu geben, sodass Berufsbetreuer*innen das, was sie tun, ins Verhältnis setzen können. Dass sie ihre Praxis beschreiben und begründen können .
Ändert sich im Zuge des neuen Betreuungsrechts grundsätzlich etwas zur UEF?
Stoy: Ja, ich glaube, es ändert sich etwas, aber sehr langsam, bedächtig. Die berufliche Identität von rechtlichen Betreuer*innen wird sich weiterentwickeln .
Hin zu dem Selbstverständnis, dass Berufsbetreuer*innen in einem ergebnisoffenen Prozess dafür zuständig sind, die Bedürfnisse der Menschen mit diesen gemeinsam
zu erarbeiten, um dann Entscheidungen zur Bedürfnisbefriedigung zu ermöglichen. Bis zu dem Punkt, wo wir zum Schutz der Betroffenen ersetzend handeln müssen - aber nur zum Schutz .
Wie lange wird dieser Veränderungsprozess dauern?
Tolle: Dieser Prozess wird wahrscheinlich so lange dauern, wie es rechtliche Betreuung gibt. Das ist auch gut so, damit Widersprüche diskutiert werden können. Es wird zum Beispiel immer diesen Widerspruch geben zwischen ersetzender Entscheidung und Unterstützter Entscheidungsfindung .
Wie sieht Ihr Forschungsinteresse in der nahen Zukunft aus?
Tolle: Jetzt geht es erstmal darum, zu bestimmen, was UEF eigentlich ist. Dann: Wie lässt sich das in die Praxis umsetzen? Ein wichtiger Punkt wäre auch, mit denjenigen zu sprechen, die Unterstützung in Anspruch nehmen. Was verändert sich aus deren Perspektive? Diejenigen, die es besonders betrifft, werden noch viel zu wenig gehört .
Das muss in der Forschung vertieft werden und mehr Raum einnehmen .
Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für den weiteren Prozess?
Stoy: Ich wünsche mir seitens der Betreuer*innen eine ehrliche Offenheit - für die Dinge, die da auf sie zukommen. Und die scheinbar mit mehr Arbeit verbunden sind. Ich glaube nämlich gar nicht, dass das so ist .
Wie kommen Sie zu dieser positiven Einschätzung?
Stoy: Kurz vorweg: Natürlich haben wir im Blick, dass die Rahmenbedingungen für Berufsbetreuung andere sein müssten, verbunden mit mehr Zeit für die Klient*innen und einer angemessenen Vergütung. Gleichwohl, und nun zu Ihrer Frage, gehe ich davon aus, dass unsere Konzepte auch entlastend sein können. So wird ein echter Dialog mit Klient*innen oder Angehörigen z.B .weniger Konflikte nach sich ziehen. Wenn es gelingt, wirklich an und mit den Bedürfnissen der Klient*innen zu arbeiten, dann erfordert das zunächst mehr Einsatz, den aber spare ich an anderer Stelle wieder ein, weil ich weniger Zeit und Energie zur Regelung von Konflikten einsetzen muss. So komme ich zu meiner positiven Einschätzung .
(Das Gespräch führte Anne Heitmann für "bdb-aspekte" 135, 2022)
LITERATUREMPFEHLUNGEN ZUM THEMA UNTERSTÜTZTE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
Brosey, Dagmar (Hrsg.) (2022): Unterstützte Entscheidungsfindung in der Betreuungspraxis. Reguvis Fachmedien (Verlag)
Offergeld, J. (2021 ): Unterstützung der Selbstbestimmung oder fremd bestimmende Stellvertretung? Rechtliche Betreuung aus der Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Weinheim u.a.: Beltz Juventa
Pick, lna (2022): Ansätze zur Selbstbestimmung der Klient*innen beim unterstützten Entscheiden im Gespräch. In: Jahrbuch des BdB, Balance Buch und Medienverlag, 20 - 34
Tolle, P. & Stoy, T. (2020): Unterstützte Entscheidungsfindung im Spiegel von Inklusion und Exklusion: grundsätzliche Überlegungen am Beispiel der rechtlichen Betreuungspraxis. Behindertenpädagogik, 3, 230-240
Tolle, P. & Stoy, T. (2023): Unterstützte Entscheidungsfindung in sozialen Berufen. Psychiatrie Verlag